Hildegard von Bingen ist eine der wichtigsten Frauen des europäischen Mittelalters. Was sie in politischer, spiritueller und künstlerischer Arbeit leistete, findet bis heute kaum seinesgleichen – weshalb sie zu Recht auch noch knapp 1000 Jahre nach ihrem Tod einer breiten Öffentlichkeit bekannt ist. Das Interesse an Hildegard hat durch die Ernennung der Heiligen zur Kirchenlehrerin durch Papst Benedikt XVI. neue Impulse erfahren. Und so ist es sehr zu begrüßen, dass sich auch eine junge Generation von Musikerinnen und Musikern mit dem Werk Hildegards beschäftigt. Es ist dem Ensemble Sequentia zu verdanken, dass Hildegards hinreißende Musik seit 1980 teilweise sogar in den Charts der populären Musik gelistet wurde. Damals ging es vor allem darum, den Schatz der Kompositionen Hildegards zu heben. Doch seither sind nicht nur viele neue Erkenntnisse über Les- und Spielpraxis der alten Musik hinzugekommen, junge Musiker fühlen sich heute viel freier, eigene Sichtweisen und Interpretationen der Meisterwerke zu entwickeln, die nicht nur philologisch, sondern auch musikalisch hoch interessant sind.
Genau das ist zu erwarten, wenn sich Arianna Savall, Petter Udland Johansen und ihr Ensemble Hirundo Maris der Musik Hildegards annehmen. Vox Cosmica heißt die CD, und der Titel ist Programm. War doch Hildegard überzeugt davon, dass der Kosmos ein großes, klingendes Ganzes darstellt, das von der Harmonie und Liebe eines Schöpfers zusammengehalten wird. Dessen heilige Prinzipien werden von Hildegard zu Tönen umgewandelt, wenn zum Beispiel die Caritas oder die Sapientia nicht etwa besungen werden, sondern selbst ihre Stimme erheben, hier verkörpert durch den Sopran von Arianna Savall.
Ihren Gegenpol bildet Petter Udland Johansens Tenor. Vox Cosmica belässt es nicht bei der femininen Spiritualität Hildegard von Bingens, sondern installiert auch einen männlichen Antipoden in Petrus Abaelardus‘ Lamentationen des David. Abaelardus ist sowohl in seiner tragischen Liebe zu seiner Schülerin Heloise wie in seiner vernunftbegründeten Theologie ein, wenn nicht der Antipode Hildegards. Aber eben nicht nur in seinem Leben und Lehren, sondern auch in seinen wenigen erhaltenen, sehr persönlich scheinenden Kompositionen. Wo Hildegard immer das große Ganze, das Ideal meint, ist Abaelardus am Konkreten, am Individuellen interessiert. Hildegard kennt keinen Schmerz, Abaelardus singt nur von ihm.
Ganz selbstverständlich bewegen sich die Musiker von Hirundo Maris in den komplexen Manuskripten der mittelalterlichen Äbtissin wie des innerlich zerrissenen Theologen. Aber sie vergessen dabei nicht ihre eigene Herkunft und unsere musikalische Gegenwart. So fügen sie zentrale Gesänge Hildegards zu musikalischen Einheiten zusammen, kontrastieren sie mit Abaelardus und verbinden alles mit musikalischen Meditationen Petter Udland Johansens. Diese Meditationen verschieben fast unmerklich die Zeitebenen von der mittelalterlichen Musik zur Gegenwart. So wird die Musik der Gegenwart nicht als Kontrast zu den Klängen des Mittelalters benutzt, sondern ergibt sich logisch aus dieser. Angestrebt wird eine neue Einheit von gestern und heute, die eigentlich eine Zeitlosigkeit ist. Die Botschaften Hildegards und Abaelardus‘ durchdringen Zeit und Raum und werden ganz direkt und emotional authentisch spürbar.
Thomas Höft, Köln am 28.09.2014
Hirundo Maris
Arianna Savall - Stimme, mittelalterliche Harfe, italienische Tripelharfe, Lyra, tibetische KlangschalePetter Udland Johansen - Stimme, Hardingfele, Lyra, Fiedel, MonochordAndreas Spindler - Flöten, Fiedel, Romain Bells, Colascione, Tromba Marina, StimmeAnke Spindler - Nyckelharpa, Fiedeln, Viola da Gamba, StimmeDavid Mayoral - Santur, Perkussion, Romain Bells, Stimme