An interview about "Lethe" in "Windkanal" magazine (German)

An interview about "Lethe" in "Windkanal" magazine (German)

Hier ein Interview mit dem Carpe Diem Records - Produzenten Jonas Niederstadt und dem Leiter des Ensembles EX SILENTIO, Dimitris Kountouras, mit der Journalistin Mirjam Schadendorf für das WINDKANAL Magazin, veröffentlicht im März 2021.

»Natürliche« Klangkunst

Klangliche Atmosphäre wird öfters kurz und bündig als »Sound« bezeichnet. Sieht man die akustischen Verltnisse beim Üben zu Hause oder bei Konzerten am Veranstaltungsort als gegeben an, gehört das Erschaen einer jeden Klangkulisse bei Tonpro­duktionen mit zu den kreativen künstlerischen Prozessen, deren Geheimnisse aber selten zur Sprache kommen. In einem Doppel-interview mit Dimitris Kountouras (Ensemble Ex Silentio) und Jonas Niederstadt (Label Carpe Diem) zu ihren CD-Produktionen »Mneme« (2015) und »Lethe« (2020) kann Mirjam Schadendorf einige Schleier lüften.

Nach der zweiten Rezension einer CD von Ex Silentio fällt mir der besondere Klang dieser Produktionen auf. Die Musiker spielen Musik aus dem Mittelalter und der Renaissance, doch die Atmosphäre ist ganz anders als bei Early-Music-Produkti­onen üblicherweise. Hier herrscht eine Art naturhafter Klang vor. Und das liegt nicht nur daran, dass viel improvisiert wird. Es gibt verhuschte, wie zufällig erscheinende Geräusche, Blockflötentöne, die scheinbar vom Wind zerrissen oder weggetragen wer­den. Wie kommt diese besondere Atmo­sphäre und das Naturhafte der Instrumen-tenklänge zustande? Zeit für ein Interview mit dem Blockflötisten Dimitris Kountouras und dem Tonmeister Jonas Niederstadt. Ersterer lebt in Athen und hat Ex Silentio gegründet. Glücklicherweise spricht er sehr gut Deutsch, da er in Wien studiert hat. Jonas Niederstadt, Gründer und Inhaber von Carpe Diem Records, lebt in Berlin. Er hat beide CDs aufgenommen und produ­ziert. Wir schalten uns online zusammen.

Mirjam Schadendorf: Nachdem ich mir im letzten Jahr Eure CD »Lethe« ange­hört habe, war ich ganz begeistert. Und mir ist wieder eingefallen, dass ich auch Eure Produktion »Mneme« aus dem Jahr 2015 rezensiert hatte. Beide CDs sind mir aufgefallen, weil sie so authentisch wir­ken. Man hört einen Track und dieser Klang ist so naturhaft und erzählt so viele Geschichten. Ich habe mich gefragt, was Euer Geheimnis ist. Wie macht Ihr das?

Jonas Niederstadt: Ich finde Deine Frage sehr spannend. Erstmal ist das ein ganz großes Kompliment für mich. Es bestätigt das, was ich versucht habe, künstlerisch bzw. klangkünstlerisch bei beiden Aufnah­men herzustellen. Das Thema »natürlicher Klang« beschäftigt mich schon lange. Ich habe dazu auch mal einen Artikel geschrie­ben. Es gibt eine große Diskrepanz zwi­schen dem, was wir als »natürlichen Klang« wahrnehmen und der Vorstellung davon, wie dieser sein müsste, also wie er quasi her­gestellt wird. Um das zu verdeutlichen: Ich habe mal ein großes Lob für eine Renaissan­ce-Aufnahme bekommen. Der Rezensent fand es wunderbar, dass wir keine Stützmi­krofone verwenden und dass ich lediglich eine Zwei-Spur-Aufnahme gemacht habe. Tatsächlich war es aber eine 16-Spur-Auf­nahme, bei der auch Stützmikrofone ein­gesetzt wurden. Wenn etwas als natürlich empfunden wird, kann dieser Eindruck auf ganz verschiedenen Wegen erzielt werden. Dieser Weg kann auch sehr artifi ziell sein, mit vielen Bearbeitungsschritten. Zurück zu »Mneme« und »Lethe«: Diese beiden Aufnahmen sind nur wenig natür­lich. Es waren jeweils sehr kleine und tro­ckene Räume, in denen wir aufgenommen haben. Es gab keinen natürlichen Hall, wir haben sehr viel mit Stützmikrofonen gear­beitet, jeder Musiker hatte eins.

Dimitris Kountouras: Jonas hat sofort ver­standen, was wir wollten. Das war wirk­lich fantastisch. Es gibt inzwischen so viel Technologie, aber es war ihm wichtig, etwas Natürliches zu schaffen. »Mneme« haben wir auf der Insel Tinos aufgenom­men, in einem Ursulinenkloster. Dort gibt es eine Kapelle und ich dachte, wir könn­ten dort die Aufnahme machen. Aber Jonas war total dagegen. Er wollte einen Raum ohne Echo. Wir haben dann einen gan­zen Tag gebraucht, um im Kloster nach einem Raum zu suchen, der Jonas‘ Vorstel­lungen entsprach. Schließlich sind wir auf einen kleinen, wirklich kleinen ehemaligen Speisesaal gestoßen. Dieses sogenannte Refektorium hatte eine sehr tiefe Decke. Wir haben uns dann dort einfach im Kreis hingesetzt und gespielt. Für uns Musiker war das Gefühl beim Spielen eigentlich in Ordnung. Natürlich hatten wir uns etwas Anderes vorgestellt, so einen Klang mit Echo, der viel Raum für Träume lässt. Aber hier war der Klang ehrlich und simpel.

JN: Wir haben das dann sofort mit Mikros ausprobiert. Und das hat auch gepasst. Mir ist es nicht so wichtig, wie die Musik in dem Raum klingt, sondern wie die Musik auf der Aufnahme klingt. Das ist das, was bleibt. Nochmal kurz zurück zu der Raumsuche: Wir hatten so viel Aufwand betrieben, um in Griechenland eine Kirche zu finden, in der wir spielen konnten. In orthodoxen Kirchen darf man nicht spielen oder aufnehmen. Und dann gab es da diese Insel in der Ägäis mit der katholischen Klosteranlage aus dem 17. Jahrhundert. Doch als wir dann in der Kapelle geprobt haben, war mir der Klang dort viel zu sakral. Es klang einfach direkt nach »Kirche«. Für ein anderes Ensemble wäre das in Ordnung gewesen, etwa für ein a-capella-Projekt. Man hätte zum Beispiel wunderbar Josquin dort aufnehmen kön­nen. Aber dann kam Ex Silentio mit seinen Instrumenten rein – samt Percussion. Wir hatten auf einmal Schlagzeug in der Kir­che, die Oud und zwei Bassinstrumente. Es war stilistisch gar nicht mehr passend. Ich konnte die Musik, die Ex Silentio macht, und den Raum einfach nicht zusammen­bringen. Deswegen habe ich nach einem neutraleren Raum gesucht.

Gab es in der Kirche Deiner Meinung nach zu viel Hall?

JN: Es war einfach eine Kirche und das hat man sofort gehört. Die Oud zum Beispiel hat überhaupt keinen Bezug zum kirchli­chen Raum. Dann hatten wir eine Tarantella im Programm. Die wird niemals in einer Kirche gespielt und schon gar nicht in einer Klosterkirche. Das Refektorium war komplett aus Holz, die Böden waren ganz alte Dielen und es war einfach ein Raum, in dem gelebt wurde. Hier hatte man gegessen, etwas sehr Irdisches, es gab eine gemütliche Atmosphäre. Und ich hatte auch den Ein­druck, dass die Musiker sich dort sofort anders gefühlt haben und dementsprechend auch anders spielten.

DK: Ich hatte einfach das Gefühl, dass wir dort geprobt und gespielt haben. Jonas war da und hat es aufgenommen. Es gab niemals diesen Zwang, dieses »und jetzt müssen wir aufnehmen«. Wir haben dort vier Tage lang eingespielt und es wurde eigentlich immer besser und besser. Es war mehr eine Pro­bensituation und das war wirklich schön.

Ich fand das sehr interessant, wie Ihr Eure Arbeit beschrieben habt. Aber auf meine Frage nach Eurem Geheimnis habe ich noch keine Antwort bekommen. Ich hatte etwa bei den Zwischenspielen von »Rey de Francia« (auf dem Album »Lethe«) das Gefühl, da steht ein Blockfl ötist auf einem Felsen und der Wind weht. Nun sagt Ihr, ihr habt in einem kleinen holz­vertäfelten Raum gesessen. Wie geht das zusammen?

JN: Ich kann dazu noch einmal etwas pro­vokativ sagen: Hätten wir in der Kirche mit ihrem Hall aufgenommen, wäre ein sol­ches Klangergebnis nicht möglich gewesen. Ich als Produzent versuche, auf der CD mit künstlichem Hall etwas zu schaffen, was es in einem Konzert nicht geben kann. Im Refektorium konnten die Musiker eng zusammensitzen. Es war eine intime Atmo­sphäre im Gegensatz zur kalten, zugigen Kirche. Man hört sich gut, es gibt ein gutes Feedback. In einem nächsten Schritt bringe ich dann durch den Mix, also durch den Hall, den ich da drauflege, die epische Weite dazu bzw. den Eindruck der Weite. Ich ver­suche sozusagen, die Emotionen, die ich in der Musik wahrnehme, nachzumodellieren, in diesem Fall zu verstärken.

Und wie kann ich mir das vorstellen, machst Du den Mix alleine oder zusam­men mit Dimitris?

JN: Den mache ich erstmal alleine. Ich habe ja schon eine Idee. Während der Aufnahme bringe ich meine Mikrofone in bestimmte Positionen, weil ich schon weiß, was ich später damit machen will. Das ist ein relativ abstraktes Denken. Der erste Schritt, also die Aufnahme zu machen: da sammle ich mein Material. Es ist etwa so, wie wenn du eine Collage machst. Du sammelst viele verschiedene Teile. Aber niemand außer mir weiß, wofür diese Teile gut sind. Natürlich ist das manchmal ein bisschen schwer zu vermitteln während des Aufnahmeprozes­ses. Dann kommt die Sängerin zu mir und sagt: »Ja, ich klinge ja so ..., das möchte ich nicht.« Dann versuche ich ihr zu erklären, dass das später noch anders wird. Der Mix ist erst mal mein eigener klangschaffender Prozess. Danach gebe ich die Aufnahme dann wieder an die Musiker zum Feedback. Da geht es dann weniger um die Frage nach laut oder leise. Es ist mehr so, ob der Bas­sist glaubt, dass er wirklich als Fundament wahrgenommen wird. Oder der Blockfl ötist fühlt sich vielleicht etwas einsam in dem Klang. Es sind letztlich doch eher Emoti­onen, die ich dann vielleicht noch einbaue oder etwas modifi ziere.

Kannst du den technischen Aspekt Deiner Arbeit noch etwas genauer erklären?

JN: Das ist ja inzwischen alles digital, ich benutze also Software. Bei »Lethe« zum Beispiel haben wir jeden Spieler mit einem Mikrofon ausgestattet und dann noch ein paar Mikros im Raum aufgestellt. Diese neh­men sozusagen ein bestimmtes Mischungs­verhältnis zwischen den Musikern auf. Der Raum selbst ist aber sehr trocken. Ohne künstlichen Hall wäre die Atmosphäre so wie bei dir im Arbeitszimmer zum Beispiel. Ich wähle dann aus, welche Instrumente für das Stück gerade ausschlaggebend sind. Und dann verwende ich digitalen Hall, der für diese Stimmen einen Nachhall erzeugt.

Und da wird es dann spannend, denn der Raum hat natürlich auch schon einen Klang. Wenn man jetzt einfach sozusagen einen »digitalen Kirchenhall« darüberlegt, dann hätte man zwei Ebenen – nämlich einen kleinen Raum in einem großen Raum. Und das klingt natürlich nicht gut, das stif­tet Verwirrung. Und an diesem Mischungs­verhältnis arbeite ich sehr lange. Wie kann ich den Raum, der schon da ist, sozusagen klanglich erweitern? Das heißt, ich arbeite mit drei Ebenen: das Mikro in der Mitte der Musiker, das quasi den Raumklang aufnimmt. Dann die Stütz­mikrofone vor den einzelnen Künstlern, die nur die jeweilige Stimme reproduzieren. Die dritte Ebene ist der künstliche Hall, das künstliche Echo. Das bildet einen Raum ab, der nie da war.

DK: Normalerweise gibt es ja Konzertklang und Studioklang, und das sind zwei ver­schiedene Phänomene. Aber Jonas macht das anders. Er versteht, was wir wollen, und arbeitet dann mit dieser Idee weiter. Ich selbst möchte allerdings nicht so viel über diesen Aspekt sprechen.

Könntest Du dennoch kurz skizzieren, was Ihr mit der ersten Aufnahme von Jonas macht?

DK: Wenn das erste Edit von Jonas kommt, dann hören wir uns das erst mal alle an. Natürlich haben wir eine Idealvorstellung von unserer Produktion. Ich möchte das Band allerdings nur zweimal, maximal drei­mal sehr aufmerksam hören. Dabei versetze ich mich in die Lage des Publikums. Es geht mir darum, ob unsere Idee tatsächlich funk­tioniert, ob das beim Publikum ankommt. Wir korrigieren meist nur wenig. Oder wie siehst Du das, Jonas?

JN: Genau das fi nde ich sehr angenehm in der Zusammenarbeit mit Ex Silentio und mit Dir, Dimitris. Du gehst in die Situati­on des Hörers und versuchst, seine Seite zu verstehen. Denn das ist eine Fähigkeit, die nicht so viele Musiker haben. Zunächst muss man verstehen, dass es sich hier nicht um eine Konzertsituation handelt und dann, dass es um den Zuhörer geht, was bei ihm ankommt. Sehr viele Musiker schaffen das nicht. Sie verstehen nicht, dass die Musik dem Hörer gefallen muss. Sie denken in ers­ter Linie an ihre eigene Klangvorstellung. Da läuft dann ein Prozess der Optimierung ab, der am Ende im schlimmsten Fall keine Relevanz mehr für den Hörer hat.

DK: Ich sehe das genauso wie Jonas. Eine Aufnahme muss wie ein guter Artikel in einer Zeitung sein. Sie muss für alle sein! Nicht nur für die sehr gebildeten Hörer.

Ist das Geheimnis dieser Aufnahme mög­licherweise die Tatsache, dass Ihr beide Euch sehr gut ergänzt?

JN: Ja, auf jeden Fall. Diese Situation gibt mir Möglichkeiten, die ich sonst nicht hätte. Wir ziehen beide am selben Strang. Es geht uns beiden darum, ein Erlebnis für den Hörer zu schaffen. Bei vielen Musikern bin ich als Tonmeister oft eher Dienstleister. Sie haben eine Vorstellung und ich versuche diese zu treffen. In der Zusammenarbeit mit Ex Silentio bin ich aber ein kreativer Teil im Produktionsprozess.

DK: Ja, genau. Jonas ist sehr wichtig für uns. Sein Instrument ist zwar keine Flöte oder Fiddle aber er ist ein weiteres Mitglied unseres Ensembles.

Wie habt Ihr Euch eigentlich kennenge­lernt?

DK: Wir haben 2010 in Berlin eine erste CD für das Leipziger Label Talanton auf­genommen. Das war eine CD mit Dufay – Musik zwischen Italien und Byzanz. Vier Jahre später wollte ich eine CD machen, die sich komplett auf den Mittelmeerraum bezieht. Wir hatten dieses Repertoire sehr oft in Konzerten gespielt. Zunächst habe ich mit Labels in Österreich und Italien Kontakt aufgenommen, aber es gab nur wenig Interesse. Und dann habe ich eines Abends sehr spät plötzlich eine E-Mail von Jonas bekommen. Er wollte mehr über das Projekt wissen und so haben wir bald mitei­nander gesprochen. Das war ein Punkt, an dem meine Idee Fahrt aufgenommen hat. Für mich war es sehr wichtig, ein Label zu finden, das zu uns passt. Als Grieche, der griechische Musik spielt, habe ich einen ganz speziellen Hintergrund. Es gibt dort nicht so viele Komponisten aus dem Mittel­alter und der Renaissance wie vielleicht im westlichen Europa. Das heißt, wir haben auch nicht so eine stark ausgebildete Tra­dition, wie man Alte Musik spielt. Dadurch entsteht für die Interpreten ein relativ gro­ßer Freiraum. Tatsächlich haben Jonas und ich uns das erste Mal auf Tinos getroffen. Mitten im Winter 2014 auf dieser kleinen Touristenin­sel. Alles war geschlossen, niemand auf den Straßen – ein wenig wie ein Corona-Lock­down.

JN: Diese erste Begegnung war sehr inten­siv. Wir waren auf dieser kleinen Insel, alle Geschäfte und Restaurants waren zu und dann saßen wir in diesem Kloster in den Bergen die meiste Zeit in diesem kleinen Raum. Man konnte nicht einfach zwischen­drin nach Hause gehen und neue Über­legungen anstellen. Wir mussten in der Gruppe bleiben und das Projekt gemeinsam durchziehen. Möglicherweise hat sich diese intensive Erfahrung auch auf »Mneme« ausgewirkt.

Definitiv. Der Eindruck von Einsamkeit, manchmal auch von Verlorenheit, ist durchaus spürbar. Natürlich weiß man nicht, dass Ihr allein auf einer kleinen Insel im Mittelmeer gewesen seid – aber es ist plausibel.

DK: Ich hatte Jonas zuerst vorgeschlagen, dass wir uns in Berlin treffen. Doch Jonas war dagegen. Er wollte lieber gemeinsam auf Tinos aufnehmen. Und ich denke inzwi­schen, das war richtig. Es war dort auch tagsüber immer total still, eine unglaubliche Ruhe. Dazu der blaue Himmel, die weißen Klippen – ein wenig wie in Irland.

JN: Und dazu ein unglaublicher Sternen­himmel in der Nacht.

Wart Ihr dort auch, um »Lethe« aufzu­nehmen?

DK: Nein, das war woanders. Das war in Agios Laviendis, in der Nähe von Thessa­loniki. Jonas hatte dort schon mal eine CD mit unserem Oud-Spieler aufgenommen, außerdem werden dort Sommerkurse ver­anstaltet. Wir kannten den Ort und die Leute also schon sehr gut. Wir konnten dort schla­fen und in einem Haus aus dem 18. Jahr­hundert aufnehmen. Vom Repertoire her ist »Lethe« anders gelagert als »Mneme«. Es gibt Musik, die muss man einstudieren. Und es gibt Musik, die muss man spielen, ganz direkt und spontan. Auf »Lethe« haben wir beide Arten vereint. Da gibt es diese wunderschönen Chansons aus dem Codex Torino. Das ist fixierte, kom­ponierte Mehrstimmigkeit im späten Ars subtilior-Stil. Und dann haben wir diese Cante­mir- und Troubadourlieder, auch ein paar Volkslieder wie »El Rey de Francia«. Das ist Musik, die muss man nicht unbedingt genau einstudie­ren. Es sollte nicht alles genau vorbereitet werden. Es ist bes­ser, sie einfach zu spielen und zu sehen, was passiert. Jede neue Interpretation gelingt anders, betont einen anderen Aspekt. Dabei ist es wichtig, dass es wirklich improvisiert ist, also spontan und lebendig gespielt wird.

Tatsächlich hatte ich bei manchen Stü­cken den Eindruck, dass Ihr improvisiert. Also etwa bei der ottomanischen Hof­musik wie »Mahur semai«. Ich hatte den Eindruck, dass die Polymelodik zufällig entstanden ist.

DK: Ja, genau, das ist improvisiert. Diese Stücke bestehen aus einem Intro, dem »Tak­sim« und einem Hauptteil. Im Taksim und auch bei den Übergängen wird viel impro­visiert. Überhaupt ist es bei der höfi schen Musik aus Istanbul bzw. Konstantinopel so, dass es hier eine sehr klare Aufführungs­praxis gibt. Die türkische Tradition gibt bestimmte Regeln vor, die seit etwa 100 Jah­ren festgeschrieben sind. Aber wir machen das nicht so! Wir haben eine ganz eigene Fassung entwickelt, die schon auf der Alten Musik basiert, aber nicht auf der traditionel­len türkischen Aufführungsweise.

Was macht Ihr denn anders?

DK: Zunächst einmal verwenden wir andere Instrumente. Blockfl öte oder Fiddle gibt es nicht in der osmanischen Tradition. Außer­dem haben wir für diese Stücke extra einen Lyraspieler angeheuert, Sokratis Sinopou­los. Er ist Spezialist für die ottomanische Musik. Die improvisierten Passagen, die wir einfügen, gibt es aber in der türkischen Schule nicht. Sokratis fand das sehr spannend und hat sich auf dieses Experiment eingelassen. Wenn ein Land sich schon länger mit Alter Musik beschäftigt, sind ja meistens ver­schiedene Schulen entstanden, es gibt eine akademische Tradition usw., wie in vielen Kulturen Westeuropas. In Griechen­land arbeitet man erst seit etwa 25 Jahren mit Alter Musik. Folgerichtig gibt es hier auch noch keine akademische Diskussion. Dadurch haben wir als Ensemble eine rela­tiv große Freiheit in unserer Spielpraxis der Renaissancemusik und konnten diese mit Elementen der Folklore mischen.

JN: Natürlich ist der Aufnahmeprozess bei den stärker improvisierten Stücken ein anderer als wenn wir uns konkret an eine Komposition halten. In diesem Fall haben wir alle bereits vorher eine Vorstellung, wie es klingen soll. Wir machen dann eine Auf­nahme und vielleicht noch zwei oder drei weitere, bis wir genug zufriedenstellendes Material haben. Anschließend schneide ich dann die verschiedenen Aufnahmen so zusammen, dass sie mit unserer Vorstel­lung übereinstimmen. Dagegen ist bei Stü­cken wie »Rey de Francia« vor allen Dingen wichtig, was im Moment passiert. Das sind unwiederholbare Ereignisse. Wir spielen das dann einmal und höchstens noch ein­mal, öfters kann man so einen improvisato­rischen Prozess gar nicht durchziehen. Das heißt, so ein Stück wie »Rey de Francia« mit seinen 5‘ 30‘‘ ist maximal an einer Stelle geschnitten, der Rest ist komplett authen­tisch durchgespielt.

Tatsächlich habe ich mich beim Hören dieses Lieds auch gefragt, wieviel ihr improvisiert habt. Das ist ja ein mehrstro­phiges Lied und die Klangfarben wech­seln etwa in den Zwischenspielen enorm. Da gab es wunderbare Momente im zwei­ten Zwischenspiel mit Schwebeklängen der Blockflöte und einer Art Glockenspiel. War das abgesprochen, Dimitris, oder ist das zufällig entstanden?

DK: Hier war nichts kalkuliert. Wenn du improvisierst, bist du ja einerseits komplett im Augenblick und andererseits schielst du immer schon ein bisschen nach vorne. Nach dem Motto: Was kann ich als nächstes machen? In gewisser Weise ist es also auch eine spontane Komposition. Aber natür­lich ist es grundsätzlich so, dass wir nichts festlegen. Allerdings haben wir bei so einer strophischen Komposition, in der es immer wieder instrumentale Passagen gibt, festge­legt, welche Instrumente jeweils aktiv sind. Also zum Beispiel: In der dritten Strophe gibt es keine Lyra!

Man kann also sagen, der Track auf der CD ist improvisiert?

DK: Ja, auf jeden Fall. Es wird jedes Mal anders, im Konzert sowieso. Wir haben das übrigens auch im Booklet bedacht. Es war uns wichtig, kein großes Begleitheft zu machen, keine Bios, keine ausführlichen historischen Betrachtungen. Einfach nur die Fotos und einige Informationen.

Ich fand es auch gut, dass Ihr das Booklet nicht mit den üblichen Ausführungen zur historischen Quellenlage belastet habt. Schade ist es allerdings, dass es keine Informationen zu den verwendeten Ins­trumenten, speziell zu den Blockfl öten, gibt.

DK: Das kann ich dir noch nachreichen. Für uns war aber etwas anderes wichtig. Es gibt jetzt eine Tradition von etwa 50 Jahren in der Alten Musik. Wir haben so viele Informationen und viele verschiedene CDs. Ich finde das schön. Letztlich ist es mir persönlich wichtig, wie ich etwas spie­le – weniger, welche Kompositionen. Und da fällt mir auch wieder ein Gespräch mit Jonas ein. Als wir uns kennengelernt haben und die ersten Kontakte stattfanden, habe ich ihn gefragt, wie er unsere Musik fin­det. Und er hat geantwortet: Speziell, aber schön! (lacht)

JN: Habe ich das gesagt? Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, aber natürlich steht dahinter mein Konzept als Tonmeister. Wie Dimitris gesagt hat, leben wir aktuell in einer Zeit, in der wir jeden Klang optimieren können, in der wir unheimlich viel wissen über Musik. Da ist es mir besonders wich­tig, in meinen Produktionen noch etwas Neues zu erschaffen, also einen Klang, den man vielleicht nicht so kennt.

Mir wird jetzt auch so langsam klar, warum ich Eure Aufnahmen so besonders fand. Ich habe beide CDs nicht wie eine Alte Musik-Einspielung gehört, sondern eher wie Folkmusik.

JN: Danke. Das ist das schönste Kompli­ment, das du mir machen kannst.

Ja, ich habe mich den Stücken nicht mit Ars subtilior im Hinterkopf genähert und mich gefragt, wo sind die metrischen Schwerpunkte oder ähnliches. Ich habe mich beim ersten Hören einfach auf den Klang eingelassen, das, was in der Gegenwart stattfi ndet.

JN: Das, was Du beschreibst, ist genau das, was ich mir von einem Hörer wünsche: dass er unsere Aufnahme direkt erlebt.

Ich denke, das ist ein perfektes Schluss­wort. Ganz herzlichen Dank an Euch beide für dieses intensive und off ene Gespräch!


Mirjam Schadendorf, Windkanal 2021-3

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